Leseprobe aus „Schweig, Julia, schweig“

„Ich verstehe dich einfach nicht.“ Mit schriller Stimme zischte Stefanie Hülsberg ihrer Tochter dieses Urteil entgegen, während sie dabei routiniert ihren mattschwarzen SUV durch die Innenstadt Münsters lenkte.

Gequält schloss Kati die Augen und spürte, wie der dumpfe Kopfschmerz hinter ihren Schläfen stärker wurde.

„Ich weiß“, versuchte Kati ihre Mutter zu beschwichtigen. Ein sinnloses Unterfangen wie sie sehr wohl ahnte.

 Stefanie holte langsam Luft und schürzte ihre Lippen. Dabei erschienen in ihrem makellos geschminkten Gesicht tiefen Falten. In diesem Moment sah man ihr jedes ihrer 58 Jahre deutlich an. Sie setzte den Blinker, um schwungvoll auf die rechte Fahrspur zu wechseln, und fing an zu lamentieren: „Statt dich von deiner Mutter um elf Uhr durch die Stadt kutschieren zu lassen, nachdem du auf der Couch deiner Schwester geschlafen hast, könntest du in einer schönen Wohnung mit Blick auf den Hafen zusammen mit Jörg den Tag genießen. Nach dem Frühstück würdet ihr gemeinsam ins Büro fahren. Aber nein, du musstest ihm ja den Laufpass geben …“

„Mutter, ich habe ihn in flagranti ertappt.“

Kati spürte, wie sich Tränen der Wut und der Trauer in ihren Augen sammelten und sie eine Woge des Schmerzes bei der Erinnerung daran überkam. Sie atmete tief ein und klimperte konzentriert ihre Tränen weg. „Nur keine Schwäche zeigen“ war ihr Mantra der letzten Wochen.

„Pah, wenn ich bei jedem Seitensprung deines Vaters gleich an Trennung gedacht hätte, wärst du ohne männlichen Elternteil aufgewachsen“, giftete Stefanie. Kleine hektische rote Flecken ließen sich unter ihrem Make-up erahnen und zeigten, wie aufgebracht sie mittlerweile war. „Sieh doch, wohin dich das bringt, Kati. Keine Wohnung, keine Arbeit, nicht mal mehr ein Auto.“

„Mein Wagen steht in der Werkstatt“, entgegnete Kati eine Spur zu laut. „Und du hast gesagt, du wolltest mich fahren. Es würde keine Umstände machen, du hättest in der Bahnhofsgegend einen Termin.“

„Ach, darum geht es hier jetzt gar nicht. Denk doch an deine Zukunft.“

„Ich arbeite dran. Ich suche verzweifelt eine Wohnung. Aber der Wohnungsmarkt in Münster ist eine Katastrophe.“ Erschöpft lehnte Kati ihren Kopf an die Kopfstütze.

„Wir haben dir unser Gästezimmer angeboten, aber das war dir ja nicht gut genug …“

Katis Kopfschmerzen dehnten sich jetzt im gesamten Kopfbereich aus. Einen Moment gönnte sie sich, an das herrliche Gästezimmer bei ihren Eltern zu denken. Boxspringbett, Kaltschaummatratze. Ein ruhiges Zimmer, geschmackvoll eingerichtet. Stattdessen hatte sie die Nacht auf einer alten durchgelegenen Couch verbracht, auf der sie vor dem Einschlafen auf der Armlehne den durchgeweichten Babykeks ihres Neffen gefunden und abgekratzt hatte. Bäh! Selbst der Gedanke daran ließ Kati vor Ekel erschaudern. Schnell dachte sie an etwas Angenehmes. Sie stellte sich vor, in dem riesigen Bett ihres ehemaligen Kinderzimmers zu liegen und …

Da keifte ihre Mutter ihr auch schon von der Fahrerseite ins Ohr: „Unser Gästezimmer, du erinnerst dich?“

Kati erinnerte sich tatsächlich wieder, warum sie das Angebot ihrer Eltern ausgeschlagen hatte und stattdessen das unbequeme Sofa bei ihrer Schwester nebst Schwager und Kindern vorzog. Ihre Mutter ertrug sie nur in homöopathischen Dosen und nach dieser Autofahrt war ihr Bedarf für Monate gedeckt.

„Es ist schön bei Monika“, log sie.

„Und die Arbeit läuft so gut wie die Wohnungssuche“, stichelte ihre Mutter.

„Besser. Ich bin froh, dass mein Referendariat am Landgericht endlich angefangen hat, und wenn es mit dem Apartment hier heute klappen sollte, bin ich zufrieden.“

„Pah, eine Zwei-Zimmer Wohnung in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof.“ Verächtlich rümpfte Stefanie ihre Nase.

Kati kannte die Vorurteile, die ihre Mutter diesbezüglich hatte. Als Geschäftsfrau, Mitinhaberin einer Galerie und Anwaltsgattin wusste Stefanie Hülsberg alles über Geld, Wohngegend und gesellschaftliche Stellung in und um Münster. Und die Bahnhofsgegend war in ihren Augen nicht gerade die erste Adresse in dieser Stadt. Kati erwiderte mit süffisantem Lächeln: „Die jetzige Mieterin, das ist die zukünftige Schwiegertochter von Elvira Schönfelder. Die kennst du doch noch.“

Abrupt nahm Stefanie Hülsberg ihren Fuß vom Gas und starrte überrascht ihre Tochter an. Das brachte ihr das wütende Hupen des Autofahrers hinter ihr ein, der sie erbost überholte und ihr gestenreich durch das Seitenfenster zu verstehen gab, was er von ihrem Fahrstil hielt. Stefanie nahm ihn gar nicht wahr, besann sich wieder aufs Autofahren, beschleunigte eifrig und fragte neugierig nach:

„Elvira Schönfelder? Die Schönfelder, Vorsitzende des Münsterclubs?“

„Genau die.“

„Welcher Sohn heiratet denn, Felix oder Maximilian?“

„Felix.“

„Und der wohnt hier in der Achtermannstraße am Bahnhof? Hat er sich denn mit seiner Familie überworfen?“

„Nein, hier lebt seine Verlobte Julia. Er ist Banker und wohnt zur Zeit in Frankfurt. Die beiden suchen sich eine gemeinsame Wohnung in Münster.“

Mittlerweile hatte der SUV die Achtermannstraße erreicht. Wie immer war weit und breit kein Parkplatz in Sicht.

„Park ruhig in zweiter Reihe, ich springe schnell raus.“

„Ja, aber ich habe da noch ein paar Fragen.“

„Die klären wir beim nächsten Mal.“ Die Aussicht darauf, die Autofahrt beenden zu können und eine überraschte Mutter zurückzulassen, gab Kati einen Energieschub.

Seufzend brachte Stefanie den Wagen abrupt zum Stehen, was ihr einmal mehr das wilde Hupen eines Autofahrers hinter ihr einbrachte.

„Bis dann“, rief Kati und stieg aus.

„Ich rufe dich später an“, versprach Stefanie, während ihre Tochter die Autotür zuschlug.

„Droh nicht“, murmelte die leise vor sich hin.

Schon brauste ihre Mutter davon.

Es nieselte. Kati zog sich die Kapuze ihrer olivgrünen Daunenjacke tiefer ins Gesicht und umklammerte ihre prall gefüllte Ledertasche. Angespannt suchte sie die richtige Hausnummer, 248c, 4. Stock, ganz oben. 238, 244, 246, ah, sie hatte 248c erblickt und ging entschlossen auf das Gebäude zu. Sobald sie es erreicht hatte, fiel ihr der leicht abgewrackte Mann in der Nähe der Eingangstür auf, der sein Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Auch wenn es ihr schwerfiel, es einzugestehen, ihre Mutter hatte recht. Die Wohngegend hier hatte ihre Schattenseiten. Schade, die Häuser waren ansehnlich und gepflegt. Die Nähe zur Innenstadt und zur Promenade sogar unschlagbar. Die Promenade in Münster, das war ein Grüngürtel für Radfahrer und Jogger, der sich rings um das Stadtzentrum zog. Herrlich! Aber die geringe Entfernung zum Bahnhof brachte auch Nachteile. Da gab es schon ein paar dunkle Gestalten. Während sie diesem Gedanken nachhing, kam der nervöse, ein wenig ungepflegte junge Mann auf sie zu. Kati erwartete, dass er um Kleingeld bitten würde. Stattdessen fragte er verschwörerisch mit niederländischem Akzent:

„Na, ein Tütchen?“

Einen Moment überlegte Kati, was er mit Tütchen meinen könnte, dann wurde ihr klar, dass ihr soeben Drogen angeboten wurden. Überrascht und etwas entsetzt entgegnete sie: „Ich versuche es heute mal ohne.“ Dabei drückte sie auf den Klingelknopf, der mit „Julia Brink“ beschriftet war.

Der Drogendealer schlenderte ein paar Meter weiter, blieb dann stehen und beobachtete Kati interessiert.

Niemand öffnete. Kati schauderte unter den Blicken des jungen Mannes. Sie betätigte die Klingel erneut. Diesmal energisch und etwas länger. Nichts. Frustriert checkte sie im Nieselregen ihr Handy, ob Tag und Zeit des Termins stimmten. Freitag, 11 Uhr. Es war 11:04 Uhr. Fast pünktlich. Resigniert ließ Kati den Kopf sinken. In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür des Mehrparteienhauses und ein junger Mann, vermutlich ein Student, stand ihr gegenüber. Lässig, mit Jeans und Lederjacke gekleidet und einem Rucksack auf den Schultern, schenkte er Kati ein gutgelauntes Lächeln.

„Möchtest du rein?“, fragte er und hielt ihr bereitwillig die Tür auf.

Ohne große Erklärung schlüpfte Kati in den Hausflur, murmelte ein „Dankeschön“ und stieg die Treppen hinauf.

„Einen Versuch ist es wert“, flüsterte sie, froh dem Nieselregen und der unangenehmen Beobachtung durch den Dealer zu entkommen. Manchmal streiken die Klingelanlagen. Vielleicht öffnet Julia Brink oben die Tür, dachte Kati. Entschlossen stieg sie Stufe um Stufe hinauf. Altbau, ohne Fahrstuhl. Was finden Leute nur daran? Klar sind hohe Decken ein Hingucker, aber das heißt doppelt so viele Treppen.

Keuchend erreichte Kati Julias Wohnungstür und wollte gerade läuten. Doch dann erstarrte sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Die Tür war angelehnt und in Höhe des Schlosses sah man eindeutig Einbruchspuren. Das Holz hatte tiefe Kratzer und war eingedellt. Unentschlossen und unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, überlegte Kati hektisch, welche Optionen sie hatte. Polizei rufen, hineingehen, Angst haben. Was sollte sie nur machen und in welcher Reihenfolge? Was, wenn jemand in der Wohnung Hilfe brauchte? Dann traf sie ihre Entscheidung.

Vorsichtig drückte Kati die Tür auf und lugte in den Flur. Nichts Verdächtiges war zu sehen. Laut pochte ihr Herz und in ihren Ohren rauschte es. Sie holte tief Luft und trat ein. Langsam schlich sie durch den Korridor, immer geradeaus. Ihre große schwere Handtasche stellte sie auf dem Flurboden ab und tastete sich auf Zehenspitzen entlang der Wand bis zur nächsten Tür. Der Laminatboden unter ihren Füßen knarrte. Das Geräusch schickte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper. Sie hätte Julias Namen gerufen, aber ihr Mund war wie ausgedörrt. Sie war sich sicher, keinen Ton herauszubekommen. Ihr Herz raste und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Es gibt bestimmt eine harmlose Erklärung, redete sie sich ein. Sie nahm den leichten Duft von Rosen wahr, atmete ihn tief ein und spürte, wie die Anspannung ein wenig nachließ.

Die Wohnzimmertür stand sperrangelweit offen. Vorsichtig spähte Kati in den Raum. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Aufschrei.

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