Leseprobe Münstermord 2

„Ubbo, los, komm, wir wurden zu einem Einsatz gerufen.“
Ubbo Dierks sah seine Kollegin Anke an und lächelte. Erst seit kurzem verstärkte er als Hauptkommissar das Team des K11 in Münster, in dem Anke Breider seit Jahren als Kriminalkommissarin ihren Dienst versah. Nur ungern erinnerte er sich an die ersten Wochen ihrer Zusammenarbeit. Anke war mit ihm als neuen Partner alles andere als zufrieden, hatte ihn als wortkarg und verschlossen beschimpft. Er war erstaunt, dass sich nach einer Aussprache und einigen Wochen gemeinsamer Ermittlungen ihr Verhältnis derart gut entwickelt hatte.
„Beeilung! Überfall mit Schusswechsel beim Juwelier Grotenhoff in der Innenstadt. Die Täter sind bewaffnet und flüchtig. Die Kollegen vom Raubdezernat sind informiert.“ Eilig sprintete Anke in Richtung Parkplatz.
Mit ausladenden Schritten schloss Ubbo zu ihr auf und fragte: „Soll ich fahren?“
Irritiert schaute Anke zu ihm herüber und schüttelte energisch den Kopf, so dass ihr blonder Pferdeschwanz hin und her flog: „Eh, du fährst so langsam, da schlagen die Insekten nicht vorne, sondern hinten an der Heckscheibe auf.“

„Das stimmt doch gar nicht. Ich halte mich an die Straßenverkehrsordnung, wenn wir nicht im Einsatz sind“, entgegnete Ubbo entrüstet.
„Komm jetzt, wir haben für so etwas keine Zeit. Wenn wir nach dem Einsatz zurück zum Polizeipräsidium fahren, stelle ich dir den vierten Gang vor und du kannst dann zur Dienststelle zurückschleichen.“ Anke grinste breit und stieg an der Fahrerseite ein.
Ubbo schnaubte und fuhr sich mit seiner Hand frustriert durch sein braunes Haar. Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und versuchte, seine langen Beine zu verstauen. Anke startete den Wagen, aktivierte Blaulicht und Martinshorn und trat aufs Gas. Hektisch kramte Ubbo in seiner Jackentasche herum und beförderte sein Handy zutage.
„Wir sind mitten im Einsatz. Wen willst du denn jetzt anrufen?“, fragte Anke schnippisch. Dabei fuhr sie hupend an einem dunkelblauen Skoda vorbei, der ihr nur sehr zögerlich Platz machen wollte und sie zum Bremsen zwang. Entnervt schaltete sie einen Gang herunter und schlug frustriert aufs Lenkrad.
„Scheißkerl“, murmelte sie und warf dem Fahrer beim Überholvorgang einen vernichtenden Blick zu. Ein kurzer Seitenblick auf ihren Kollegen erinnerte diesen an die noch unbeantwortete Frage.
„Ähm, ich dachte …“. Weiter kam er nicht.
Schon schimpfte Anke los. „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Sag nicht, dass du jetzt …“. Für einen kurzen Moment unterbrach sie ihren Satz, da sie mit quietschenden Reifen bei Rot links vom Friesenring auf die Grevener Straße abbog und dafür nicht nur beide Hände am Steuer brauchte, sondern auch ihre volle Konzentration. Sobald der Scheitelpunkt der Kurve erreicht war, wetterte sie empört weiter. „… in dieser Situation deine Kati anrufst. Meinst du nicht, du kannst deinen Beziehungsstatus ein andermal klären?“
Erstaunt blickte Ubbo zu seiner Kollegin.
„Woher weißt du …, ach, egal. Ich bin beunruhigt. Kati ist vermutlich in der Innenstadt.“
Anke schnaubte hörbar. „Mensch, tausende sind in der Stadt. Du glaubst doch nicht, dass sie ausgerechnet zum Zeitpunkt des Raubes in dem Juwelierladen war. So klein ist Münster nicht. Über 320.000 Einwohner, da wird deine Kati wohl in Sicherheit sein.“ Wutentbrannt hupte sie, als sie sah, dass ein weiteres Fahrzeug vor ihr keine Anstalten machte sich rechts zu halten, um sie vorbeizulassen.
Ubbo schwieg.
Ankes Hände krallten sich krampfhaft um das Lenkrad und beim Schalten ließ sie den Motor aufheulen. Sie warf ihrem Kollegen einen kurzen Seitenblick zu. „Herrgottnochmal, ruf sie um Himmels willen an“, brauste sie auf. „Dann hat die liebe Seele Ruh. Sag ihr, sie soll sich aus der Innenstadt raushalten. Ich will nicht über ihre Füße stolpern, nachdem du sie mit deinem Anruf in die Nähe des Tatorts gelockt hast.“
Ungeachtet des Wortschwalls seiner Kollegin hatte Ubbo schon längst Katis neue Handynummer gewählt. Die Schimpftirade ignorierte er völlig. Er schätzte seine Kollegin sehr, ihre Loyalität und auch ihren bissigen Humor. Dass sie sich hin und wieder grundlos aufregte oder versuchte, ihn herumzukommandieren, konnte er mühelos ausblenden.
Ungeduldig wartete er darauf, dass Kati seinen Anruf entgegennahm. Er hörte das Freizeichen. Gequält schloss Ubbo die Augen und betete lautlos, dass Kati nicht in Nähe des Tatorts sein möge.
Warum sollte sie? Anke hatte recht. Nur weil sie vor ein paar Wochen bei einer Wohnungsbesichtigung eine Leiche entdeckt hatte und im Verlauf der Ermittlungen verfolgt und fast erwürgt worden war, bedeutete das nicht, dass sie diesmal involviert war. Vor Ubbos geistigem Auge entstand das Bild einer strahlenden Kati, die lachend ihren Kopf in den Nacken warf und ihn wegen seiner Sorgen neckte.
Ein weiteres Mal ertönte das Freizeichen und die Vorstellung der gutgelaunten Kati, die ihm einen spitzbübischen Blick zuwarf, wandelte sich. Er sah sie nun mit Würgemalen am Hals und krächzender Stimme. Die Erinnerung an Kati am Abend der Festnahme eines Mörders, der versucht hatte, auch sie zu töten, hatte sich in seinem Gedächtnis festgebrannt. Die Angst, die er an diesem Abend ausgestanden hatte, konnte er nicht abschütteln.
Nervös trommelte er mit seinen Fingerkuppen auf seinem Oberschenkel. Wieder ertönte das Freizeichen.
Bitte, geh ran, flehte er innerlich.
Er merkte, dass er die Luft anhielt, und zwang sich, durchzuatmen und seine verkrampften Muskeln zu entspannen.
Abrupt bremste Anke, so dass Ubbo in seinen Sicherheitsgurt geschleudert wurde und nur mit Mühe sein Handy festhalten konnte. Bevor er einen Kommentar zum Fahrstil seiner Partnerin abgeben konnte, meldete sich Kati.
„Hallo, Ubbo“, atemlos und ohne Pause redete sie drauflos, „wie schön, dass du anrufst. Ich habe Feierabend. Bin am Aegidiimarkt und möchte noch schnell in die Arkaden. Rufst du wegen der Restaurantreservierung am Wochenende an?“
Bevor Ubbo eine Chance bekam den Redeschwall zu unterbrechen, hörte er Katis Stimme brüllen: „He, gehts noch? Aufpassen!“
„Kati?“, fragte Ubbo, der im Hintergrund Stimmengewirr und Motorengeräusche hörte. Dann vernahm er ein Knirschen und Knacken, gefolgt von Stille. „Kati?“, brüllte er in sein Handy.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.